Das Bayerische Reinheitsgebot ist 500 Jahre alt. Zum Glück gilt es noch heute, denn wenn ein Bier mit Haferflocken, Kräutern oder gar Tollkirschen versetzt wird, kann so einiges passieren.
Peter Hummel
Ein bisschen riecht es in einer Brauerei morgens um sieben so wie Partykeller morgens um sieben riechen, nämlich nach beginnenden Gärprozessen in den kleinen Pfützen auf dem Boden, gemischt mit dem Aroma von von getrocknetem Bierschaum. Was jedoch zu Hause den Eindruck eines schweren Kopfes verstärkt, animiert hier, in der Riegele Biermanufaktur in Augsburg, dazu, sich ein kleines Bier zu öffnen. „Jetzt am Morgen sind die Geschmacksnerven noch frisch und aufnahmefähig“, erklärt der Braumeister, „jetzt schmecken Sie den feinen amerikanischen Hopfen heraus, der ein bisschen an eine Mangomarmelade erinnert.“ Das stimmt tatsächlich und die acht Männer, die sich an diesem Tag zu einem Brauseminar zusammengefunden haben, honorieren den ersten Schluck Commerzienrat Hell mit einem erstaunten „Prost, sappralott!“
Haferflocken im Bier?
Der Riegele Commerzienrat wurde von Bierkennern zum Bier des Jahrhunderts gewählt und ist ein feines Helles nach bayerischer Brauart. „Selbstverständlich gebraut nach dem Reinheitsgebot“, sagt der Brauer. Während des Braukurses wir aber ein India Pale Ale entstehe, das mit der Zugabe einer kleinen Menge Haferflocken erst richtig rund im Mund werde. „Haferflocken?“, fragt einer der Teilnehmer, „ist das denn erlaubt?“
Der Braumeister schüttelt den Kopf und klärt die Herren auf, dass viele sogenannte Craft-Biere außer Wasser, Hopfen und Malz zum Beispiel Honig, Reis, Mais oder eben Haferflocken enthalten. „Die sind gerade in Mode und haben auch ihre Berechtigung, sind aber eher was für experimentierfreudige Brauer.“ Und natürlich dürfen diese Biere sich nicht als „Bier, gebraucht nach dem Bayerischen Reinheitsgebot“ verkaufen.
Hugo, ein Mittvierziger aus dem Allgäu, macht sich nochmal eine Halbe auf, zur Sicherheit, denn bei einem mit Haferflocken versetzten Bier kann man ja nie wissen, ob einem geübten Biertrinker sowas bekommt.
Rein seit 1516
Gleich darauf wird das Wasser in den Kessel gelassen, reines Quellwasser, das den Stahltank langsam füllt. Das hätten der bayerische Herzog Wilhelm IV. und sein Bruder Ludwig X. im Jahr 1516 durchgehen lassen, als sie am 12. April, einem Donnerstag, in Ingolstadt beim Landständetag erließen: „Ganz besonders wollen wir, dass fortan allenthalben in unseren Städten und Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.“ Damit war das älteste und bis heute gültige Lebensmittelgesetz fixiert.
Den bayerischen Staatsdienern ging es dabei aber weniger um einen Marketing-Gang. Ihnen waren auch das Felsquellwasser und die Perlen der Natur einigermaßen egal, Haferflocken sowieso. Es ging schlicht ums Überleben. Sie mussten die Leute landauf und landab vor unbekömmlichen Zusatzstoffen und billigen Ersatzstoffen im Bier schützen, schlechtem Zeug, das im besten Fall nur zu Kopfschmerzen und Erbrechen führte. Außerdem sollten Getreide wie Weizen oder Roggen den Bäckern zur Verfügung stehen und nicht in den heimischen Sudkesseln landen.
Zudem legten die Herzöge mit dem Reinheitsgebot nicht nur die Zutaten fest, sondern auch die Preise. Durch die verbesserte Qualität bayerischer Biere, die damit konkurrenzfähiger gegenüber dem Norden waren, sprudelten auch die Steuereinnahmen.
Auch der Kaiser schaut aufs Bier
Während im Sudkessel bei Riegele nun die Gerste zum Wasser gegeben wird, dazu noch eine ordentliche Portion Röstmalz, erinnert der Braumeister daran, dass hier in Augsburg, in der Stadt der Fugger und Welser, bereits im Jahr 1156 eine Art Reinheitsgebot erlassen wurde, wenngleich nicht ganz so streng wie jenes, das 360 Jahre später gültig wurde. Als Friedrich Barbarossa, Kaiser des römisch-deutschen Reiches, am Freitag dem 21. Juni 1156 der Stadt Augsburg das erste Stadtrecht Deutschlands verlieh, erwähnte er in der Rechtsverordnung auch die Bierqualität, was als Drohung für die Brauer verstanden werden konnte: „Wenn ein Bierschenker schlechtes Bier oder ungerechtes Maß gibt, soll er gestraft werden. Überdies soll das Bier vernichtet oder den Armen umsonst ausgeteilt werden.“ In Regensburg wurde 1447 der Stadtarzt Konrad Megenwart damit beauftragt, ein besonderes Augenmerk auf die Zutaten im Bier zu legen, weil so viele Kinder nach dessen Genuss danieder lagen. Sechhs Jahre später kam eine Verordnung heraus, bei der die Brauer schwören mussten, ihrem Bier weder Samen noch Gewürz noch Gestrüpp beizufügen. Von da an waren die Regensburger wieder gesünder, kamen zu Kräften, Ruhm und Ansehen.
Gebraut wurde schon vor über 4 000 Jahren
Vom Wasser abgesehen begleitet kein anderes Getränk die Menschheit mit einer Stetigkeit durch die Kulturgeschichte wie das Bier. Archäologische Grabungen in der Nähe von Kairo förderten die Überreste einer 4 500 Jahre alten Bäckerei zutage, die gleichzeitig als Braustätte diente. Bei dieser Gelegenheit wurden Tafeln mit Schriftzeichen entdeckt, auf denen Details über die Braukunst festgelegt waren. Dazu sollte eine Art Brot mit Aromen versetzt und dieser Sud in einem Bottich zur Gärung gebracht werden. Der dazugehörige Trinkspruch lautete: „Was dein Herz erfreut, das erfreut unser Herz. Unsere Leber ist glücklich und unser Herz ist fröhlich.“
Die damaligen Biere dürften wesentlich süßer geschmeckt haben als jene, die im Mittelalter gereicht wurden und die manchmal sogar mit Tollkirschen gewürzt, was wohl mit dem Effekt vergleichbar ist, eine Prise Crystal Meth ins Weißbier bröseln. Die Gebräue hatten auch einen höheren Alkoholgehalt, so dass sich die Menschen nicht nur am Gerstensaft berauschten, sondern auch an der Hexenjagd. Denn: Hat das Bier damals nicht geschmeckt oder verursachte sogar Krankheiten, schrieben dies die Herrschaften kurzerhand den „Brauhexen“ zu und nicht wenige Todesurteile wurden deshalb auf dem Scheiterhaufen oder dem Galgen vollstreckt.
Qualitätstest: Kleben muss es
Ein sehr beliebtes Würzmittel bis zum 15. Jahrhundert war Stumpfporst, ein Kraut, das bei zu hoher Dosierung Wutanfälle bis zur totalen Raserei hervorrief, was den „Bierhexen“ obendrein zum Verhängnis wurde. Höchste Zeit also, für eine einheitliche Regelung samt Qualitätskontrolle, die seinerzeit darin bestand, dass die Stadtoberern in gelben Lederhosen zur Braustätte kamen und auf Bänken Platz nahmen, auf die der Brauer zuvor sein Bier gegossen hatte. Wenn die Herren nach zwei Stunden auf Kommando aufstanden, musste das Sitzmöbel am Hinterteil festkleben. Alsdann hatte das Bier seine Prüfung bestanden und wurde für gut befunden, weil entsprechend viel Malz verkocht war. Bei ganz schlechtem Bier zwangen sie mitunter den Brauer dazu, „ihr eigenes elendes Pier selber zu trincken“, was man heute so manchem amerikanischen Biermulti wünschen würde.
Beim Braukurs in Augsburg genehmigt sich Hugo unterdessen ein drittes Helles, weil es jetzt daran geht, dass der Brauer die Hefe zugibt. Hugo verweist darauf, dass im Bayerischen Reinheitsgebot von Hefe gar keine Rede sei, was tatsächlich stimmt. Vor allem deshalb, weil die Brüder Wilhelm IV. und Ludwig X. im Jahr 1516 noch gar keine Hefe kannten. Dass die Gärung damals trotzdem funktionierte, lag an den natürlichen Hefen, die in der Luft lagen, also im Staub und im Schmutz, der vom Wind umher gewirbelt wurde.
Made in Bavaria
So richtig durchgesetzt hat sich das Reinheitsgebot übrigens erst ab dem 19. Jahrhundert, Ausnahmen wurden noch in Notsituationen gewährt, etwa nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wo in bestimmten Regionen sogar Zuckerrüben oder Kartoffelflocken als Zutaten erlaubt waren. Und ganz bitter wurde es im Jahr 1987, als die damaligen Richter am Europäischen Gerichtshof nicht viel von reinem Bier hielten und Deutschland dazu zwangen, die Grenzen auch für Importbier zu öffnen – also jene Gebräue aus aller Welt, die im besten Fall als aromatisiertes Wasser bezeichnet werden können und mit allerlei chemischen Zusätzen versetzt sind. Immerhin verdanken wir es ein paar trinkfesten Juristen und ihren Winkelzügen, dass das Reinheitsgebot bis heute für jene Biere aus Deutschland gilt, die nicht für den Export bestimmt sind. Selbst Weißbier, Kölsch und und Alt werden längst nach dem Reinheitsgebot gebraut, obwohl beim Brauen dieser obergärigen Biere laut derzeitiger Gesetzeslage außerhalb Bayerns auch die „Verwendung von technisch reinem Rohr- und Rübenzucker erlaubt“ wäre. Aber „Gebraut nach dem Bayerischen Reinheitsgebot“ ist inzwischen eine Auszeichnung, ein Qualitätssigel wie „Made in Germany“ und sorgt dafür, dass Bier, anders als Wein, seit 500 Jahren keinen Lebensmittelskandal erlebt hat Es wird sogar von Veganern akzeptiert, die sich beispielsweise bei einem irischem Guinness durchaus schwer tun, weil zu dessen Filtrierung Fischblasen verwendet werden.
„Drei Zutaten plus Hefe sind nicht viel“, sagt der Braumeister in Augsburg, „aber sie reichen aus, um damit Tausende verschiedener Geschmäcker, Farben und Konsistenzen zu erzeugen.“ „Haferflocken runden bei kleinsten Braumengen wie diesen 60 Litern nicht nur den Geschmack ab, sondern sorgen auch dafür, dass der Schaum schön dicht ist“, erklärt der Brauer, ehe er den Sud des Tages herunter kühlt und den Hopfen beigibt. „Ansonsten hat das Zeug in meinem Brauhaus nichts verloren.“ Hugo runzelt die Stirn, weil er Haferflocken nur vom Frühstücksmüsli kennt und schon deshalb nie Frühstückmüsli isst, weil keine Wurst drin ist und kein Käse, sondern eben Haferflocken.
Nicht zu lange warten
Sechs Wochen später erhalten alle Teilnehmer des Brauseminars jeweils eine Drei-Liter-Flasche ihres eigenen Bieres und von Hugo wird berichtet, dass er noch weitere sechs Wochen wartete, ehe er in seiner Küche, umgeben von einigen Freunden, den mächtigen Ploppverschluss öffnete. Und dann? Nun, am Tag darauf musste der komplette Raum neu gestrichen werden, weil von den drei Litern rund zweieinhalb Liter in einem Strahl und wie aus einem Springbrunnen aus der Flasche Richtung Decke, Schränke und dem kompletten Buffet schossen, deutlich sichtbar durch das Röstmalz, das beim Brauprozess verwendet wurde. Zwar waren es nicht die Haferflocken, die für den zu starken Gärprozess gesorgt hatten, aber Hugo war dennoch stinksauer.
Zum Glück hatte er im Keller zwei Kästen gut gekühltes Helles, die den Abend retteten. Und als einer der Gäste anfing, aus dem Bier einen amerikanischen Hopfen mit Mangonote herauszuschmecken, machte Hugo ihm einen Früchtetee. „Zum Wohl!“, sagte er, trank selber aus der Flasche und dachte in diesem Moment auch nicht an die beiden Herzöge aus dem Jahr 1516, die hatten ihre Sache ohnehin gut gemacht, sondern an die nächste Halbe.
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